Zur Schreibaufgabe: „Schreibe einen Prosatext über einen realen oder einen fiktiven Ort. Der Ort soll sozusagen der Hauptdarsteller sein“ vom April 2020

 

Der Wintergarten

 

von Brigitte Stoderegger

  

Wahrscheinlich geht es gegen Mitternacht, weil sie die Kerzen anzündet. Wenn sie nicht kommt, weiß ich, dass sie nicht zu Hause ist. Und natürlich ist sie eine Sie. Wer sonst würde so einen Aufwand mit Kerzen betreiben, um sich Behaglichkeit zu erzeugen? Behaglichkeit in selbstgestrickten Wollsocken und bequemer Kleidung. Jeden Abend der immer gleiche Rückzug in die vertraute Intimität und dann …

… Ach Verzeihung, ich habe vergessen, mich vorzustellen. Ich bin der Wintergarten, bevorzugter Lieblingsort meiner Bewohnerin, und ohne große Töne spucken zu wollen, ihr ganzer Stolz.
Und hochmütig könnte man schon werden, denn wenn ich so um mich blicke ist es das reinste Paradies, in das ich vor Jahren hineingebettet wurde. Ich habe viel Glas um mich, bin aber keineswegs durchsichtig. Ich habe meine Geheimnisse. Zum Beispiel, wenn sich die einzige Besucherin meiner einsamen Nächte manchmal vom Brustgeschirr befreit, das sie geschickt, Hände auf dem Rücken, öffnet, unter der jeweiligen Oberbekleidung hervorzieht und so von jedwedem Einengenden befreit von sich schleudert. Da wo es zu liegen kommt, bleibt es oft bis zum nächsten Morgen.
Nein, schlampig ist sie nicht, sie will nur nicht gestört sein in ihren Reflexionen zu dem gerade entschwindenden Tag, denn nachdem sie also die Kerzen entzündet hat – von Teelichtern, über spitz zulaufende Stumpen-, Duft- oder Kugelkerzen reichen ihre Kostbarkeiten, die niemals ausgehen – stellt sie das Glas Wein auf das Tischchen und legt Zigaretten und Feuerzeug dazu. Der Aschenbecher steht immer bereit.
Ja, sie raucht, aber ich verzeihe ihr das, bin ich doch räumlich so großzügig angelegt, dass sich die Nikotinwolke wie ein Hochnebel verzieht.

Apropos Tischchen: das wackelige, alte, sich auflösende Bambusding ist verkleidet mit einem makellos weißen Tischtuch, das fast bis auf den Boden reichen muss, um die Hinfälligkeit des Tischchens zu vertuschen.

Nach dem Kerzen-Anzünde-Ritual setzt sie sich auf einen der beiden Stühle mit weicher Lederauflage – auch alte Dinger – und gespannt warte ich darauf, wie sie den zweiten Stuhl heranzieht, wie sie die Füße darauf legt, wie sie nach der Zigarette greift und wann sie den ersten Schluck Wein nimmt. Es ist jeden Tag ein klein wenig anders und lässt mich ahnen, wie ihre Gefühlslage ist, also wie sie so „drauf ist“. Bemerke ich Unruhe, Nervosität oder Trauer, dann helfe ich ihr, in Einklang mit sich selbst zu kommen. Ich bin ja da, umschließe sie mit meinen blumenbestückten Ecken, beruhige sie mit meiner zurückhaltenden Stille und meiner unaufdringlichen Ausstrahlung. Schöpfe ich doch meinerseits entsprechende Kraft durch die natürliche Umgebung.

Meine schönste Seite ist die der untergehenden Sonne, wo eine riesige Rotbuche mit ihren purpurnen Blättern ihre Arme ausbreitet, als wolle sie mich umfangen.
Die breite Doppelglastüre, die die gegenüberliegende Wand mutig unterbricht, führt ins Geheimnisvolle.
Auf der nördlichen Seite lässt der Laubwald nur bedingt Licht durch und nur im Winter, wenn die Blätter träge geworden sind, gibt er den Blick auf das entfernte Dorf frei.
Bedauernswert ist der der Südseite vorgelagerte Balkon, der ganz schwer mit den immer heißer werdenden Sommern zurecht kommen muss. Seine grauen Bodenfliesen, übrigens die gleichen wie ich sie habe, heizen sich tagsüber derart auf, dass man darauf wahrscheinlich Speisen wärmen könnte. Doch in schwülen Sommernächten weicht meine Anwohnerin mit ihren gedanklichen nächtlichen Übungen kerzenlichtgestützt auf den dann kühleren Balkon aus. Das macht mich ganz schön eifersüchtig. Ich bin ja auch nur ein – Wintergarten! Und ich habe Augen im Kopf!

Meine Augen, Fachmänner und Fachfrauen sprechen gern von Oberlichten, blicken geradewegs in den Himmel, registrieren jede Wetterveränderung, sehen glänzende Blätter oder tropfnasse Äste und lassen bei wolkenlosem Himmel den Wiederschein der Sterne in ihnen funkeln. Und die Krone der Blutbuche, die schon über mich hinausgewachsen ist, schützt mich vor übermäßiger Sonnenbestrahlung.
Senke ich den Blick, dann fällt er geradewegs auf eine Couch. Der bevorzugte Leseplatz meiner Freundin. Ich glaube, ich darf sie so nennen, sind wir einander doch über all die Jahre sehr nahegekommen. Kopf- und Fußende lassen sich aufstellen und da liegt sie dann, lesend, manchmal auch schlafend und je nach Jahreszeit ist sie zugedeckt bis zum Hals oder in Unterwäsche. Die Unterwäsche stört mich nicht, vielmehr ist es das Grellbunte der Couch, das mich Natureingebetteten irritiert. Tja, Geschmäcker sind eben verschieden, doch inzwischen habe ich mich auch an die verwirrend, kräftigen Farben gewöhnt.

Die alte Truhe hingegen, die sie erst jüngst angeschafft hat, passt nicht nur wunderbar ins andere Eck, sondern ist mit ihren versöhnlichen Brauntönen auch recht hübsch anzusehen und kann außerdem noch Decken, Pölster und Kerzenvorräte aufnehmen. Sie ist nicht wirklich alt, sondern auf alt gemacht, das kann sogar ich erkennen.

Das ist dann auch schon ziemlich alles, was mich schmückt.
Ach ja, da wären noch die beiden Lautsprecherboxen. Also ich bräuchte keine Musik auch nichts Gesprochenes, aber wenn sie hier bügelt oder handarbeitet, mag diese Lautuntermalung doch recht kurzweilig sein. Etwas leiser wäre gut, aber vielleicht hört sie ja schlecht …
Und klar, da gibt es auch Blumen, aber außer der wunderbaren Palme, die fast bis zu meinem einen Auge reicht, gibt’s keine pflanzlichen Höhepunkte. Sie scheint nicht wirklich einen grünen Daumen zu haben, die gute Frau.
Und doch, durch das viele Grün innen und außen werde ich zum Paradies. Ich bin der Garten Eden, der Rand einer himmlischen Steppe, der Garten der Wonne, ein Ort der Seligen, in der die darin Wohnende und ich in symbiotischer Harmonie leben.

Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, die Nikotinschwaden sind durchlässig geworden und haben die Gedankenschleifen aufgesaugt. Meine liebe Freundin sammelt die verstreuten Minuten ein, löscht sorgfältig die Kerzen und verlässt mich auf leisen Sohlen.